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SUBCULTURE MEETS CAPITALISM

Das Potenzial von Street-Art als zeitgenössisches Marketinginstrument

Es gibt keine allgemeingültige Definition, aber Street-Art könnte grob als eigenständige visuelle Kunstform zusammengefasst werden, die in verschiedenen Formen und mit unterschiedlichen Medien gestaltet erscheinen kann und im öffentlichen Raum für eine öffentliche Sichtbarkeit erstellt wird. Aus Graffiti hervorgegangen, entwickelte sich Street-Art Ende des 20. Jahrhunderts und Anfang des 21. Jahrhunderts zu komplexen interdisziplinären Formen des künstlerischen Ausdrucks. Mit dem Ziel, eine Geschichte zu erzählen und etwas Schönes und Bedeutungsvolles zu schaffen, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht und eine emotionale Reaktion bei Passanten auslöst.

Sichtbarkeit, Wahrnehmung und emotionale Reaktion entsprechen den Zielen, die Marketingkampagnen weltweit erreichen sollen. Seit Anfang der 2000er Jahre ist die Verwendung von Street-Art für Marketingzwecke zu beobachten, beginnend in Städten wie Berlin, London, Paris und New York. Modemarken wie Adidas, Levis oder Puma sowie die Musik- und Getränkeindustrie beauftragten urbane Künstler, ihre Werbebotschaften durch Poster, Sticker, Stencil-Sprays oder großflächige Wandbilder im öffentlichen Raum zu verbreiten.

Die Marke neben Street-Art-Werken zu platzieren erwies sich als eine einfache und effektive Möglichkeit, Produktnamen mit Street Art-Kultur zu verknüpfen und gleichzeitig ein breites Publikum zu erreichen. Auch das Sponsoring von Street Art-Aktivitäten oder Kooperationen für Produkt-, Shop- oder Merchandise-Design lässt sich immer häufiger beobachten. Die Einsatzmöglichkeiten von Street-Art sind vielseitig und noch lange nicht ausgeschöpft, ein potenzielles Werbemittel, das bisher nur vergleichsweise wenige Unternehmen eingesetzt haben. Street-Art könnte immer noch als ein relativ junges und Nischen-Marketing-Phänomen beschrieben werden, aber seine Bedeutung im Marketing-Mix nimmt stetig zu.

Was ist es, das Streetart zu einem so mächtigen Marketinginstrument macht?

Guerilla-Marketing (kostengünstige Marketing-Taktiken, bei denen Überraschung, Umnutzung der aktuellen Umgebung oder unkonventionelle Interaktionen zum Einsatz kommen) oder Ambient-Marketing (Platzierung von Werbung auf Elementen der Umgebung, einschließlich nahezu aller verfügbaren physischen Oberflächen) können eine kosteneffiziente Lösung für Unternehmen mit kleinen Marketingbudgets sein. Durch das Platzieren von künstlerischen Botschaften im Dienste einer Marke können neue Räume und Standorte für Werbung genutzt werden. Sie können genau dort platziert werden, wo sie für die überwiegend junge Zielgruppe am sichtbarsten sind – in der Nähe des Spielplatzes, neben dem Computerspieleladen oder vor dem örtlichen Konzertsaal. Die Attraktivität von Streetart als alternatives Marketinginstrument wird auch durch seine Fähigkeit erhöht, ein größeres Publikum zu erreichen, als die meisten traditionellen Werbeformen es in einer visuell ansprechenden Art und Weise tun könnten.

Durch den Einsatz von Streetart kann ein Unternehmen nicht nur wertvolle Markenpräsenz erzielen, sondern auch sein Image mit der Streetart-Subkultur verknüpfen. Imagewerbung wird vom Verbraucher deutlich seltener als Werbung wahrgenommen, da sie sich unauffällig in die ursprüngliche Streetart-Landschaft eingliedern kann, wenn Künstler das Produkt- oder Markenlogo auf eine Weise in ein Kunstwerk integrieren, die ihrer eigenen Ästhetik und ihrem individuellen Stil folgt. Dies bietet eine Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der jungen Zielgruppe zu erregen, die über Kaufkraft verfügt, aber über traditionelle Marketingkanäle schwieriger zu erreichen ist.

Die Subkultur, aus der sich Streetart entwickelte, nahm ursprünglich eine kritische Haltung gegenüber dem vorherrschenden politischen oder wirtschaftlichen System und den traditionellen Überzeugungen der Gesellschaft ein, und lehnte Mainstream-Wertvorstellungen ab. Nach Dick Hebdige liegt der Grund dafür, warum Subkulturen im globalen Kapitalismus selten intakt bleiben, an der Aufnahme subkultureller Zeichen in massenproduzierte Objekte. Diese Zeichen können Stil, Sprache, Verhaltensweisen oder Überzeugungen sein, die dazu dienten, die Subkultur von der vorherrschenden Kultur zu unterscheiden, zu der sie gehört. Aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst, werden die subkulturellen Zeichen in Waren übersetzt, allgemein zugänglich und verständlich gemacht, marschieren in die Massenmedien ein und werden als gewinnbringende Waren eingesetzt. Das Ergebnis kann eine Umwandlung vom Gegentrend in einen Mainstream-Trend sein. Ein Beispiel dafür kann die Hippie-Bewegung in den 60er Jahren sein, die als aktivistische Anti-Mainstream-Bewegung begann, welche dann von vielen Marken, die ein Stück ihres freigeistigen, rebellischen und jungen Charmes wollten, erkannt, genutzt und ausgenutzt wurde. Wenn eine Subkultur auf Zeitgeist trifft, Anti-Haltung und Verkaufbarkeit besitzt, wie es Streetart tut, kann dies der Marke helfen, sich in der Nähe der trendigen Subkultur zu positionieren und deren gewünschte Attribute für sich zu übernehmen.

Es ist der Versuch, eine Subkultur und ihre Aura zu vermarkten, bei gleichzeitiger Gefahr einer Abwertung der subkulturellen Zeichen und Attribute: Durch Dekontextualisierung, Nutzung in Medien und Mainstream und letztendlich Überbeanspruchung werden die ursprünglichen subkulturellen Attribute mit neuen Werten beladen, verwässern im Lifestyle und verlieren letztlich ihre Bedeutung, wenn ein Trend sein Ende erreicht und ersetzt wird. Um am Beispiel der Hippie-Bewegung zu bleiben, welche Werte vermitteln die inflationär verwendeten Peace-Zeichen heute und was haben sie noch mit ihrer ursprünglichen Bedeutung gemeinsam?

Welche Eigenschaften von Streetart machen sie als Werbeplattform so attraktiv?

Es könnten die mit Streetart assoziierte Autonomie und der Nonkonformismus sein. Eine Kunstform, die nicht auf traditionellen Regeln basiert, sich dem Markt lange entzogen hat und oft einen Hauch von Kriminalität und Vandalismus mit sich bringt. Streetartists handeln aus eigener Initiative, um ihre Kunst auszustellen, und verfolgen häufig die Vision, Kunst zu demokratisieren, indem sie sie der Öffentlichkeit uneingeschränkt zugänglich machen.

Immer mehr Institutionen erkennen Streetart heutzutage als Kunst an. Markante Beispiele sind die Sotheby’s-Auktionen von Banksy-Werken, die maßgeblich zur zunehmenden Popularität von Street Art und zur Steigerung ihrer Trendigkeit innerhalb der Kultur, als deren Gegenentwurf sie ursprünglich entstanden war, beitrugen. Streetart gilt heute als kreativ, cool und am Puls der Zeit. Cool und trendy zu sein ist eine der begehrtesten Eigenschaften vieler Marken. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Marketingabteilungen versuchen, ihre Produkte mit diesen Attributen zu verknüpfen und die subkulturelle Ästhetik aufzugreifen, um sie auf eine Weise zu vermarkten, die mit den Massen kompatibel ist.

Während in der Vergangenheit Menschen konsumierten, um sich an die Gesellschaft anzupassen, kaufen die Menschen der heutigen Konsumgesellschaft ein, um sich zu differenzieren, was Off-the-Mainstream-Bewegungen für Marketingzwecke noch attraktiver macht. Trends entstehen und ändern sich mit zunehmender Geschwindigkeit. Dies erfordert, dass sich Unternehmen schnell anpassen und Trends frühzeitig erkennen, bevor die Innovation im Lifestyle versinkt. Dieser Druck auf Unternehmen, im Trend zu liegen und sich von der Konkurrenz abzuheben, kann ebenfalls einer der Gründe dafür sein, Subkulturen in Marketingstrategien aufzunehmen. In diesem Fall sind Streetartists vergleichbar mit einflussreichen Trendsettern, in die zu investieren interessant sein könnte.

Je mehr sich eine Subkultur der Mainstream-Übernahme widersetzt, desto attraktiver und begehrenswerter wird sie für Unternehmen. Dies war der Fall bei der Graffiti-Kultur, der Wiege der Streetart, der es gelungen ist, ihre Subkultur und ihr Underground-Image bis heute in gewissem Maße zu erhalten. Kommerzialisierung ist innerhalb der urbanen Kunstszene umstritten, ohne einen einheitlichen Nenner:  Einige Künstler lehnen bezahlte Aufträge jeglicher Art ab, um die freie „Seele“ der Streetart zu bewahren, ihren ursprünglich aktivistischen und Anti-Mainstream-Idealen folgend. Einige akzeptieren nur ausgewählte Auftragsarbeiten, die ihrer Meinung nach politisch oder ethisch korrekt sind und eine berechtigte Botschaft haben. Andere leisten jede Art von bezahlter Auftragsarbeit und priorisieren wirtschaftliche Werte vor künstlerischer Freiheit, um von ihrer Arbeit als Künstler leben zu können. Diese letzte Gruppe wird von Szene-Mitgliedern oftmals des sogenannten „Sell-Outs“ beschuldigt; der Kompromittierung von Integrität, Moral, Authentizität oder Prinzipien eines Künstlers im Austausch gegen Geld.

Street Art bietet ein großes Werbepotential und die Nutzung dieser Subkultur als Marketinginstrument hat begonnen, aber ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Eine Entwicklung, die mit dem Risiko einhergeht, diese Subkultur zu verändern oder vielleicht sogar zu zerstören, wenn der Trend an Fahrt gewinnt und seine zugrundeliegenden Werte in den Mainstream- und Massenmedien verliert. Was diesen Prozess im Fall von Streetart verlangsamen könnte, ist, dass sich die Mitglieder dieser Subkultur zwar zu öffnen beginnen, aber immer noch Vorbehalte gegen die kapitalistische Marktwirtschaft und den Verkauf ihrer Kunst für diese Zwecke haben.

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März 2020